Ein philosophischer Vortrag über das Metaphorische in der Architektur von Dr. Tassilo Eichberger
Unsichtbare Stadt
Erkundungen & Betrachtungen am Beispiel Dornbirn
Unsichtbare Stadt
Im Vorübergehen, en passant, ist von der Stadt nur die Masse der Häuser sichtbar, eines an das andere gereiht, lediglich gegliedert von Straßen und Plätzen. Verborgen bleibt, wie sich zwischen dem Gebauten, dem Materiellen, Kultur und Lebensweise inszenieren und wie sie mit Bedeutungsfeldern, Zeichen, Anekdoten und Historie das eigentliche Stadtbild formen. Die Komplexität und Dichte des Stadtgefüges erzwingt von ihrer Bewohnerschaft gleichsam eine selektive Wahrnehmung. Um sich im Alltag zurechtzufinden, im Dickicht der Zeichen und Bedeutungen voranzukommen, muss ausgewählt und ausgeblendet werden. Jenseits der individuellen inneren Landkarte, die Städter zur alltäglichen Orientierung nutzen, existiert - unsichtbar - eine andere Stadt. Sie ins Bewusstsein zu bringen, ist nun Ziel einer Ausstellung im vai, dem Vorarlberger Architektur Institut in Dornbirn, die in Kooperation mit dem Stadtarchiv Dornbirn realisiert wurde.
Der Dornbirner Stadtarchivar Werner Matt, der in seinen Depots die historischen Zeugnisse, das komprimierte Gedächtnis der Stadt vor Augen hat, ist sich gewahr, dass sich dieses Wissen im Bewusstsein der Städter nicht wiederfindet. Der Historiker beschloss, gegen diesen blinden Fleck vorzugehen und die ausgeblendete, unbekannte Seite der Stadt sichtbar zu machen. Gemeinsam mit dem Fotokünstler Arno Gisinger und dem Architekturschriftsteller Robert Fabach nahm er beispielhaft einige markante Gebäude aus Dornbirn unter die Lupe und erstellte sozusagen ihr Psychogramm. Alle drei Autoren brachten dabei ihre eigenen Methoden und ihr Fachwissen ein, um das Unsichtbare Schicht für Schicht freizulegen und ihm so ein Gesicht zu geben.
Drei Spurensucher
„Der Fotoapparat ist nicht nur ein bildgenerierendes Mittel, sondern eine Art Sehinstrument, eine Möglichkeit, Dinge anders zu betrachten. Es fängt damit an, dass ich mir auf der Suche nach dem Bild Zeit nehme, ein Haus richtig anzuschauen, bis in kleineste Details. Dann muss ich einen Standort wählen, den Blickwinkel festlegen, das Umfeld miteinbeziehen oder ausblenden. Und die Suche setzt sich im Innern fort, da geht es um die Bewohnerinnen und Bewohner, den Geist des Hauses“, erzählt Arno Gisinger darüber, wie er ein Hausporträt fertigt.
Die räumliche Situation, der Typus und Gestus des Gebäudes, seine Entstehungszeit, seine Stilelemente sowie die Intentionen von Bauherr und Architekt bilden dagegen die Ausgangspunkte des Architekturschriftstellers Robert Fabach. Aus der sorgsamen Begehung, dem Verweilen vor Ort entwickeln sich dann für ihn die Gebäude zu differenzierten „Persönlichkeiten“, manche ganz verhalten, andere wieder mit vordergründigem Pathos. Diesen Auftritt im Ensemble der Stadt und dessen Hintergründe zu erlebbaren Betrachtungen zu formen, ist das Ziel seiner Architekturerzählungen.
Über ganz andere Kriterien wiederum nähert sich der Stadtarchivar Werner Matt den Gebäuden an. Er setzt sich mit den Zeugnissen der Geschichte auseinander, stellt mit Relikten wie alten Fotos, Akten und Erinnerungen den gesellschaftlichen Kontext her. Dabei geht es um das Immaterielle, um Rekonstruktionen von Verschwundenem, um Kontinuitäten und Brüche, darum, die ins Gemäuer jedes Hauses eingeschriebene - individuelle oder kollektive - Geschichte der Städter zu entschlüsseln.
Die Spurensucher nehmen gezielt einzelne Häuser ins Kreuzverhör, bringen sie zum Sprechen. Die Auswahl vereint dabei verschiedenartige Gebäude mit ganz unterschiedlichen Funktionen. Die Spanne reicht von orts- und gesellschaftsprägenden Bauten bis hin zu in Vergessenheit geratenen, aber historisch bedeutenden Wohn- und Lebensräumen. Da findet sich das Haus Rick in der Bäumlegasse, aber ebenso die Villa Guntram Hämmerle in der Dr. Waibel Straße, das Rathaus oder etwa die Siedlung Bremenmahd. Gemeinsam ist allen Bauten, dass sie Zeitzeichen sind und über den Einzelfall hinausweisen.
Hausgeschichte als Lebensgeschichte
Nicht selten verweben sich Haus- und Lebensgeschichten nachhaltig. Das Haus Kalb in der Schillerstrasse 22 zeigt dies anschaulich. Das Gebäude ist ein Kleinod bürgerlicher Baukunst, gleichzeitig aber auch bestrebt, es den Villen in der Nachbarschaft gleichzutun. Der Wunsch, in höhere Kreise aufzusteigen, hat auch den Erbauer Josef Kalb Zeit seines Lebens angetrieben. Er sah sich selbst als Kunstmaler, musste jedoch sein Brot als Schriften-, Schilder- und Wappenmaler verdienen. Der Ehrgeiz wurde auf den Sohn Edmund übertragen und diesem zum Schicksal. Die Ausstellung zeichnet die Lebens- und Hausgeschichte Kalb bis heute nach. Nun betreut ein Neffe das Gebäude, das eigentlich ein Museum des - inzwischen international bekannten - Malers Edmund Kalb ist.
Wegmarken der Stadtentwicklung
Häuser können auch Wegmarken der Stadtentwicklung sein und so Zeugnis ablegen über vergangenen Zeitgeist. Das erste Hochhaus Vorarlbergs ist so ein Fall. Das siebenstöckige Gebäude mitten im Zentrum von Dornbirn fällt heute niemandem mehr besonders auf. Das war in den 50er Jahren noch anders, als auf dem wertvollsten Baugrund der Stadt das erste Hochhaus des ganzen Bundeslandes entstehen sollte. Gegen alle Widerstände geplant und ausgeführt, fand der Wohnturm an der Europapassage schließlich aber Käufer, die bis heute dort geblieben sind.
Die Ausstellung: Eine Stadt zum Flanieren
Ein solches Forschungsprojekt kann schnell zum besserwisserischen Habitus verleiten, zum erhobenen Zeigefinger, der vorschreibt, wie die Stadt zu sehen sei. Doch genau das Gegenteil, haben die drei Stadtforscher vor Augen gehabt. „Wir glauben an die Demokratie des Blicks“, sagt Arno Gisinger „deshalb hat die Ausstellung ein ganz eigenes Design erhalten“. Das Publikum bekommt nicht vorgefertigte Interpretationen vorgesetzt, sondern kann sich – im wahrsten Sinne – selbst sein eigenes Bild von der Stadt machen. Dazu bietet die Schau, gegliedert in drei Informationsebenen Fotografien, historische Dokumente und Hintergrundtexte an.
Wie ein Flaneur in der Stadt bewegt man sich dort entlang an großformatigen Bilderreihen. Sie bilden das Leitmotiv der Schau, für deren Erkundung und Entdeckung man sich Zeit nehmen sollte. Die Fotoessays führen mit ihren Einblicken in die einzelnen Häuser einen enormen Detailreichtum vor. Diese erste, raumumfassende Ausstellungsebene integriert und nutzt auch die vorhandenen Fensterelemente für gezielte Ausblicke und verbindet so den Schauraum mit dem realen Stadtraum.
Beim Gang durch die Ausstellungs-Stadt bleibt es dem Interesse und Rhythmus jedes einzelnen überlassen, wie er sich orientiert. Texttafeln gibt es nicht, wer aber die angebotenen Sitzgelegenheiten bei den einzelnen Hausstationen nutzt, kann sich, wie im Caféhaus, Zeit zum Schauen nehmen - besonders für die „Materialtische“, an denen Platz genommen werden kann. Sie zeigen, sozusagen auf einer zweiten Ebene, eine Fülle von Bild- und Schriftzeugnissen, die nicht vor Ort, am Haus, zu finden sind. Eine Einladung an das Publikum, Haus- und Lebensgeschichten zu rekonstruieren und den Kontext der Einzelbauten zur städtischen Kultur und Geschichte herzustellen.
Auf dritter Ebene werden die Bilder und die historischen Zeugnisse um ausführliche Hintergrundtexte und Interpretationen ergänzt, die von den Ausstellungsmachern in Form von Zeitungen zusammengestellt wurden. Dank dieser Konzeption wird der Stadtraum zum Spielraum, in dem das angebotene Material jedem die Freiheit der eigenen Interpretation lässt. Wie bei einem Puzzle fügen sich die einzelnen Informationen zu einem Stadtbild zusammen. Und mehr noch: abgesehen vom jeweiligen dokumentarischen Wert des Einzelfalls sind diese acht Beispiele eine Aufforderung für weitere Erkundungen, ein Appell für mehr Aufmerksamkeit und gegen die Routine der Wahrnehmung.