Bildungsschock | Lernen, Politik und Architektur in den 1960er und 1970er Jahren Ausstellung 5. März bis 25. Juni 2022 Eine Ausstellung des Haus der Kulturen der Welt (HKW), Berlin Kurator: Tom Holert Termine Ausstellungseröffnung Freitag, 4. März 2022 | 19 Uhr Ausstellungsgespräche Donnerstag, 17. März, 18 Uhr Samstag, 23. April, 11 Uhr Donnerstag, 19. Mai, 18 Uhr Samstag, 25. Juni, 11 Uhr Architekturtage-Finale „Leben, Lernen, Raum“ 10. und 11. Juni 2022 in ganz Vorarlberg Es war ein Triumph der sowjetischen Raumfahrt: Am 4. Oktober 1957 umrundete Sputnik I, der erste künstliche Satellit, die Erde. Mitten im Kalten Krieg löste der „Sputnik-Schock“ vor allem in den USA, aber auch in weiten Teilen der restlichen Welt, tiefe Verunsicherung aus. Wie sollte die vermeintliche „Fortschrittslücke“ geschlossen werden? Reihenweise beschlossen Regierungen große Investitionsprogramme für Forschung und Bildung, woraufhin die Räume und die Zeiten des Lernens förmlich explodierten. Ganztagsschulen und Bildungszentren wurden gebaut, Reformuniversitäten gegründet, Sprachlabore eingerichtet. Man entdeckte die „Stadt als Klassenzimmer“ und erfand das „lebenslange Lernen“. Das Forschungs- und Ausstellungsprojekt Bildungsschock – Lernen, Politik und Architektur in den 1960er und 1970er Jahren befragt diese Epoche vor dem Hintergrund aktueller Debatten um die Beziehung von Bildung und Raum. Der Begriff „Bildungsschock“ bezieht sich einerseits auf die angesprochenen Schock-Metaphern der Zeit. Andererseits verweist er auf die Erschütterungen, denen Bildung im Zuge von Reform und Modernisierung ausgesetzt war. Die Ausstellung folgt dem Prinzip der Fallstudie. Jede der rund fünfunddreißig Stationen arbeitet einen bestimmten Aspekt des globalen Bildungsgeschehens der 1960er und 1970er Jahre heraus. Dafür haben die mitwirkenden Künstler|innen und Wissenschaftler|innen die Archive sondiert. Den Besucher|innen wird eine Epoche nähergebracht, die geprägt war von Experimenten, von Aufbruchsstimmung, von Kritik und Zweifel. Bildungsschock kann damit als Ressource für den Umgang mit den bildungspolitischen Debatten der Gegenwart und Zukunft dienen. Das räumliche Gefüge des Lernens Die Räume, in denen gelernt wird, beeinflussen das Lernen selbst. Architektur spielt hier eine wichtige Rolle, doch der Begriff des Raums in diesem Ausstellungsprojekt ist weiter gefasst. Er bezieht sich nicht nur auf die gebaute Umgebung im engeren Sinn. Gemeint sind Territorien, räumliche Ordnungen und Beziehungen, die durch soziales, pädagogisches und technologisches Handeln entstehen. Bildungsschock macht daher ein Gefüge sichtbar: von Gebäuden und Personen, Mobilität und Bildung, Barrieren und Offenheit, Gesellschaft und Geografie. Vergangene Zukünfte Die Beispiele für diese Verhältnisse, die immer auch politische sind, stammen aus einer Zeit, die eine Ewigkeit zurückzuliegen scheint: den langen 1960er und 1970er Jahren. Doch waren diese Jahrzehnte vielleicht noch nie derart nah wie heute. Eine zentrale Frage des Projekts lautet: An welche vergangenen Zukünfte, an welche realisierten und unrealisierten Pläne, Projekte und Visionen lässt sich anschließen? Bildungsschock geht davon aus, dass die Zukunft der Bildung nur in der Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte gelingen kann. Zu dieser Geschichte gehören neben erfolgreichen Innovationen auch Episoden des Scheiterns – von bildungspolitischen Neuanfängen, pädagogischen Reformen und architektonischen Konzepten. „Bildung für alle“ Die räumliche und zeitliche Expansion hatte auch viel damit zu tun, dass weltweit immer mehr Menschen der Zugang zu Bildung ermöglicht werden sollte. Das Ideal des Wohlfahrtsstaats sollte sich in der Entwicklungspolitik widerspiegeln. Die geopolitischen Spannungen des Kalten Kriegs waren groß, aber weltweit verband die Nachkriegsgesellschaften das Ziel, den Raum der Bildung und Erziehung weiter zu öffnen. Der Diskurs der Menschenrechte hatte die Forderung „Bildung für alle“ auf den Weg gebracht – ein Appell zu Chancengerechtigkeit und Demokratisierung im Zeichen einer vermeintlichen „Weltbildungskrise“. Von der Industrie- zur Wissensgesellschaft Der Einflussbereich von Wissenschaft dehnte sich so stark aus, dass ganze Gesellschaften regelrecht verwissenschaftlicht und pädagogisiert wurden. Bildung und Lernen entwickelten sich zu einer Grundbedingung von Wachstum. Technologische Entwicklungen trieben gleichzeitig einen tiefgreifenden Strukturwandel voran. Der beginnende Transformationsprozess der Industrie- in eine Wissensgesellschaft verlangte nach immer höherer (Aus-)Bildung für immer weitere Teile einer wachsenden Bevölkerung. Er verlangte für dieses Vorhaben aber auch nach neuen Architekturen und Raumprogrammen. Und nach einem neuen Verständnis von Bildung als Kompetenzerwerb. Experimentalisierung des Sozialen In den Staaten des Globalen Nordens wurde so umfangreich experimentiert wie seit den Zeiten der Reformpädagogik des frühen zwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr. Die zunehmende Automatisierung der wirtschaftlichen Produktion hatte an dieser Experimentalisierung, die letztlich die gesamte Gesellschaft betraf, einen entscheidenden Anteil. Aber ebenso wirkten sich die sozialen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre aus. Der antirassistische Kampf um Bürgerrechte in den USA, antikoloniale Erhebungen im Globalen Süden, die zunehmende transnationale Arbeitsmigration, der Feminismus oder die antiautoritären Rebellionen in den Metropolen – sie veränderten Konzepte des Lernens und seiner Infrastrukturen, oft radikal. Bildungspolitik und Ökonomie Zwischen 1960 und 1980 stieg die durchschnittliche Anzahl der Schuljahre in der Bundesrepublik Deutschland von 9,60 auf 11,35, in Italien von 4,95 auf 6,48, in Japan von 8,59 auf 10,52 und in den USA von 10,56 auf 12,14. Weltweit allerdings lag die durchschnittliche Anzahl der Schuljahre 1980 noch bei 5,34. Mehr Fähigkeiten und Kenntnisse zu erwerben, sollte die volkswirtschaftliche Leistung heben. Mit dem Ziel nationaler (und individueller) Entwicklung handelten Regierungen nach den Maximen von Wandel und Wachstum. Der Begriff der Bildung und ihrer Förderung wurde auf Institutionen und Organisationen übertragen. Metaphern wie „lernende Gesellschaft“ oder „lebenslanges Lernen“ unterstützten diese Prozesse – sowohl als Losungen der Emanzipation wie als solche einer neuen Weise, das Soziale und das Selbst zu regieren. Großraum – offenes Lernen Öffnung und Expansion sind Metaphern, die darauf hinweisen, dass sich räumliche Verhältnisse verändern. Geradezu folgerichtig wandelten sich in den 1960er und 1970er Jahren die Orte des Lernens: Schulen und Universitäten wurden für immer mehr Lernende und Studierende geplant, sollten aber zugleich Offenheit, Flexibilität und Mobilität verkörpern. Die traditionelle Flurschule wurde aufgelöst, eine flexible Raumnutzung angestrebt, die oder der Lernende – zumindest theoretisch – ins Zentrum gestellt. Lernumgebungen konnten nun überall entdeckt werden: in der Stadt, in den Massenmedien, in der Natur. Inwiefern entsprach das Modell des schulischen Großraums mit seinem „offenen“ Grundriss den um 1970 viel diskutierten Konzepten anti-autoritärer Erziehung? Solche Zusammenhänge wurden hergestellt, aber auch verworfen. Die expansive Bildungsplanung produzierte lauter Widersprüche. Und die gebauten Architekturen hatten ihren Anteil daran, wenn Forderungen nach Flexibilität in Anonymität und Isolation mündeten und die Kritik an der Autorität im schulischen Massenbetrieb unterging. Segregation, Integration, Inklusion Bei all den Forderungen nach Erweiterung blieben weiterhin viele junge Menschen von der angestrebten Bildungsgerechtigkeit ausgeschlossen. Von der Segregation in den Vereinigten Staaten oder der Apartheid in Südafrika bis zur Situation der Kinder von sogenannten Gastarbeiter|innen in der BRD – Teile der Gesellschaft hatten immer wieder nur eingeschränkten Zugang zu den Räumen der Bildung, wenn er ihnen nicht ganz verwehrt wurde. Für Schüler|innen mit Be_hinderungen war Barrierefreiheit noch viel weniger selbstverständlich, Konzepte wie Inklusion erreichten erst in den 1970er Jahren allmählich den Mainstream der Pädagogik und Bildungsplanung. Räume des Lernens ausstellen und beschreiben Modern Architecture for the Modern School war der Titel der wohl ersten Museumsausstellung zu Schularchitektur, die 1942 von Elizabeth Mock im Museum of Modern Art (MoMA) in New York kuratiert wurde. Im Jahr 1974, als die Reformbegeisterung der Nach-Sputnik-Jahre (nicht nur) in den USA spürbar nachgelassen hatte, führte Mildred S. Friedman mit New Learning Spaces and Places am Walker Art Center in Minneapolis eine Art Bestandsaufnahme durch. Und 2012, einige Bildungskrisen später, organisierte Juliet Kinchin den Überblick Century of the Child: Growing by Design, 1900–2000 (erneut im MoMA). Diese Ausstellungen sind Bezugspunkte von Bildungsschock – schon deswegen, weil ihr Thema, das Verhältnis von Raum und Pädagogik, bis heute kaum im Medium der Ausstellung verhandelt worden ist. „Lernprozesse“: zur Methode In der Epoche, mit der sich das Projekt beschäftigt, war viel von „Lernprozessen“ die Rede. Auch Bildungsschock ist Ergebnis und Ausgangspunkt von Lernprozessen. Es geht um Forschung und Produktion, um Archive und Experimente, um Thesen und ihre Überprüfung, um Revision und Kritik, um Wissen und Ent-Lernen. Dabei lösen sich Grenzen zwischen wissenschaftlichen, essayistischen, pädagogischen oder künstlerischen Herangehensweisen tendenziell auf. Das Projekt durchquert und kartiert die Geschichte der Experimente mit Lernen, Politik und Architektur. Es dokumentiert gelungene und misslungene Reformen. Ein Überblick, der alle Aspekte erfasst, wurde gar nicht erst angestrebt. Das Thema ist so weitläufig, dass sich eine allumfassende Dokumentation erübrigt. Den Fallstudien der Ausstellung ließen sich ohne Zweifel weitere Beispiele hinzufügen. Die vorhandenen Lücken zu schließen, ist eine gemeinsame Aufgabe: zwischen dem Projekt Bildungsschock und Ihnen, den Besucher|innen und Mitwirkenden. Denn wir alle waren und sind Lernende und haben spezifische Erfahrungen mit Räumen des Lernens gesammelt. Pandemie als Lernort Die Covid-19-Krise hat die Arbeit an diesem Projekt an einem wichtigen Punkt seiner Entwicklung zum Innehalten gezwungen. Die Ausstellung musste modifiziert werden, viele Rücksichtnahmen – von der Hygiene bis zur Einhaltung von Abstandsregeln – waren notwendig. Die Pandemie machte aber auch deutlich: Wo immer es um Lernprozesse geht, wirken sich Organisation und Gestaltung des Raums entscheidend aus. Homeschooling, digitale Lernformate, umgestaltete Unterrichtsräume und angepasste Lehrpläne sprechen hier eine deutliche Sprache. Viele der heute diskutierten Konzepte ähneln dabei stark denen der Bildungsschock-Epoche. Wie die Räume des Lernens beschaffen sein sollten, ist und bleibt zentralerAnsatzpunkt der Auseinandersetzung über die Politik des Lernens. Eine Ausstellung des Haus der Kulturen der Welt (HKW), Berlin Kurator: Tom Holert Projektkoordination: Marleen Schröder Ursprüngliche Ausstellungsgestaltung HKW: Kooperative für Darstellungspolitik | Ausstellungsarchitektur HIT | Grafik Adaptierung für das vai: Clemens Quirin | Konzeption Daniel Büchel | Ausstellungsarchitektur Lisa Ugrinovich | Grafik Leben, Lernen, Raum | Architekturtage 2021/22 Finale 10. und 11. Juni 2022 Wie kann Architektur das Lernen und Lehren im Raum bestmöglich unterstützen? Die 11. Ausgabe der Architekturtage erstreckt sich über ein ganzes Jahr und stellt unter dem Thema „Architektur und Bildung: Leben Lernen Raum“ innovative Bildungsbauten und Konzepte vor. Von Juni 2021 bis zum großen Finale im Juni 2022 haben die Architekturhäuser in ganz Österreich einen bunten Mix an Veranstaltungen zusammengestellt und laden ein, Bildungsbauten zu erkunden und Lernorte aus verschiedenen Perspektiven neu zu denken. In unserer TV-Thek finden Sie spannende Dokumentationen, Portrait, Interviews und vieles mehr zum Leitthema der Architekturtage! www.architekturtage.at 25 Jahre vai Seit 25 Jahren folgen wir dem Auftrag, den persönlichen und gesellschaftlichen Wert und Mehrwert von guter Architektur zu vertreten und vermitteln. Wir reflektieren Architektur als Spiegelbild gesamtgesellschaftlicher und kultureller Prozesse und denken daher soziale, politische, ökonomische, ökologische, technologische und ästhetische Einflüsse und Wirkungen mit. Unser Ziel ist die Stärkung der Baukultur in Vorarlberg. Entwicklung braucht Bildung. Wir fördern daher die Auseinandersetzung mit Inhalten, Ausdrucksformen und Wirkungen von Architektur und wollen damit zu einem höheren Qualitätsbewusstsein für Architektur beitragen. Allgemeines Öffnungszeiten Büro Montag bis Freitag, 9 bis 12 Uhr Öffnungszeiten Ausstellung Dienstag bis Freitag, 14 bis 17 Uhr Donnerstag bis 20 Uhr Samstag 11 bis 15 Uhr an Feiertagen geschlossen Ausstellungs- und Baukulturgespräche Laut Terminankündigung und auf Anfrage. Für Schulklassen ist die Anreise zu unseren Angeboten kostenlos.Information bitte anfordern unter: info@v-a-i.at Newsletter Alle 14 Tage informieren wir in einem Newsletter über aktuelle Projekte und Termine zum Architekturgeschehen in Vorarlberg. Website www.v-a-i.at Social Media Das vai betreibt einen Facebook- und einen Instagram-Account: facebook.com/VorarlbergerArchitekturInstitut instagram.com/vai_architektur_institut Rückfragen Presse Lisa Ugrinovich | lu@v-a-i.at